Ahninnen
Wir hüten die Weisheit.
Du trägst das Wissen und die Weisheit deiner Ahninnen und der Welt in Dir.
Erinnere dich! Ehre und achte deine Wurzeln!*
Ahninnen
Unsere Ahninnen sind unsere Wurzeln in der Zeit.
Sie sind die ewige Wandlung und wir ihre Wiederkehr in neuer Form.
Alles will gelebt werden.
Alles will erfahren, gedacht, erkannt gewusst und wieder vergessen werden,
zurückfallen in den Mittelpunkt, wo alles und alle eins sind.
Erinnern wir uns.
Sie sind da, sie waren immer da und werden immer wieder sein.
Ewig gewandelt, immer dieselbe Eine.
Nichts ist neu, alles ist anders, die Essenz ist ewig.
Erinnern wir uns.
MutterWelt ist da.
MutterNatur ist da.
MutterFluss nährt und erneuert.
MutterBerg kreisst.
Die Weite von MutterHimmel und die Tiefen von MutterSee führen auf den gleichen Grund zurück,
die Quelle, aus der alles Leben erneuert ewig wiederkehrt.
Ich erinnere mich,
lasse mich mit der blutigen Spindel hineinfallen in den Brunnen.
Dort begegne ich ihr, der Einen, der Alten.
Dort warten sie alle,
dass eine mit dem roten Faden zu ihnen kommt,
dass der rote Faden sie herausführt aus dem Labyrinth,
dass sie wieder neue Gestalt annehmen können.
Wieder geboren werden.
Welten wechseln, Seelen wandern, Begegnungen, Wiederkehr.
Verbundenheit durch alle Zeitschichten hinab und hinauf.
Ich erinnere mich.
Ich lasse mich herabsinken und erneuern.
Lerne, die Äpfel der Erkenntnis, die mir die Schlangen bieten, zu pflücken.
Lerne, das Brot beizeiten aus dem Ofen zu holen.
Lerne, wann Zeit für den gründlichen Hausputz ist.
Wann es Zeit ist, zu wettern.
Lerne, dass die Tiefen der Erde und die Höhen des Himmels derselbe Ort sind,
der Ort, wo sie wohnen.
Wo sie die Welt unter Schneedecken schlafen legen, während sie das grünende Leben hüten.
Sie kehren wieder.
Und mit ihnen das neue Leben.
Und das alte Wissen.
Jedes Mal.
Ahninnen
„Wir haben das Bedürfnis, dazuzugehören, eine Geschichte zu haben, zu spüren, dass unsere Existenz einen Sinn hat, der größer ist, als wir selbst es sind. Ohne Verbindungen zur Vergangenheit hätten wir keinen Bezugspunkt, auf den wir unsere Identität aufbauen könnten. Doch wohin wenden wir uns, wenn unsere Kultur sowohl etwas ist, was wir schützen wollen, als auch die Quelle unserer Unterdrückung?“(S.286)
„Die Rolle, die wir in der Gesellschaft spielen, ist mit unserer Identität verwoben.(S 288) „Die Geschichten, die wir über uns selbst erzählen..“( und die man uns erzählt, darüber wer und wie wir sind), „ziehen sich wie ein roter Faden durch unser Leben“… und „..können darüber entscheiden, wie wir leben“.(S. 298.)(Angela Saini, die Patriarchen, hanserblau,2023)
Dies schreibt Angela Saini in ihrem neuesten Buch, „Die Patriarchen“.
Als Psychotherapeutin und auch privat bin ich ständig damit konfrontiert, wie sehr die Festlegung auf bestimmte Rollen und Bilder von Weiblichkeit uns Frauen in unserem Leben beschneidet, unseren Selbstwert beeinträchtigt und uns im Alltag Bürden und Benachteiligungen auflädt, unter denen wir leiden, über die wir uns aber oft gar nicht bewusst sind. Der Gedanke, das all dies „schon immer so war“, und die falsche Annahme, dass es uns Frauen heute besser geht, als je zuvor in der Menschheitsgeschichte, zementieren die Vorstellung, in der bestmöglichen aller Welten zu leben. Oft sind die damit verbundenen einschränkenden Rollen und Aufgaben scheinbar freiwillig gewählt, weil weder wir selbst noch unsere Umwelt andere Möglichkeiten denken können. Unser eigener Wunsch normal zu sein, dazuzugehören und akzeptiert zu werden, lässt uns Frauen auch selbst immer wieder in Rollen zurückfallen, die uns benachteiligen.
Daher suche ich nach Vorbildern und Identifikationsmöglichkeiten für Frauen und Gesellschaftsformen, die über die altbekannten Klischees und Festlegungen hinausreichen und neue Möglichkeiten eröffnen, unser Bild davon, was und wie eine Frau /ein Mensch sein kann, und wie wir uns miteinander und mit der Welt verbinden, erweitern.
Die Rückverbindung mit Urbildern von Weiblichkeit, die sich in der Vor- und Frühgeschichte und bis heute in allen Kulturen der Welt finden, die die verschiedenen Potentiale von Frauen abbilden, kann uns stärken und inspirieren.
Es sind Bilder weiblicher Macht und Kraft, die das Weibliche als schöpferisch, nährend und erhaltend sowie zerstörend und erneuernd zeigen. Kurz gesagt, die Macht, die für die ständige Entstehung und Erneuerung alles Lebens sorgte, wurde und wird als weiblich gedacht und abgebildet.
Ebenso wurde die Erfindung der Schrift, der Dichtung, Musik, Landwirtschaft, letztlich aller Kulturtechniken, bis hinzu Jagd und Krieg früher erstmals Frauen zugeschrieben, die lange Zeit als Trägerinnen der Kultur galten und gemeinsam mit den Männern entsprechende Positionen in der Gesellschaft einnahmen.
Kulturen, in denen Frauen geschätzt und geachtet werden und das Leben der Gemeinschaft stark gestalten, sind alle durch egalitäre Verhältnisse geprägt und es sind Konsensgemeinschaften. (D.h. alle Entscheidungen werden so getroffen, das alle damit einverstanden sind. Niemand wird überstimmt oder übergangen.) Matriarchat als Gesellschaftsform, hat zu keiner Zeit die Unterdrückung von Männern bedeutet, sondern immer gemeinschaftliche Verantwortung für das Wohl aller und zugleich für das Wohl der Natur.
Die hier zu findenden, ganz anderen Bilder und Rollen geben Frauen wie Männern die Möglichkeit, ein neues Selbstverständnis zu entwickeln, eine neue Sicht auf Weiblichkeit und nicht zuletzt auf unsere Körper zu bekommen.
Die Möglichkeit uns mit Ahninnen zu identifizieren, die das ganze Spektrum weiblicher Potentiale verkörpern, erweitert unsere Denk und Handlungsmöglichkeiten. Es eröffnet neue Möglichkeiten, uns zu verstehen und uns selbst, wie alles Lebendige, wert zu schätzen.
Die Bilderreihe „Ahninnen“ ist eine Reise zu meinen persönlichen und unseren kollektiven Vorfahrinnen. Und je mehr ich forsche, desto vielfältiger und bunter wird das Spektrum an neuen Möglichkeiten, Weiblichkeit und Verbundenheit zu lesen und zu leben.
Vielleicht kann ich Sie ein Stück weit mitnehmen ins Land der Ahninnen und wünsche Ihnen dort spannende Begegnungen und hoffentlich auch Herausforderungen:
Ahninnen
Es ist anzunehmen, das die Ahn*innenverehrung und der Ahnenglaube eine der ältesten spirituellen Vorstellungen ist.
Bei fast allen indigenen Völkern und auch in anderen religiösen/ spirituellen/ rituellen Kontexten, findet sich Ahn*innenverehrung in unterschiedlichster Form. Im Christentum erinnert die Heiligenverehrung und deren Anrufung in unterschiedlicher Not, stark an die älteren, als „heidnisch“ abgegrenzten Vorstellungen von Ahn*innen, die aus der „Anderswelt“* die Schicksale der Menschen und der Natur lenken und oft ebenfalls spezielle Zuständigkeitsbereiche haben:
Ahn*innen sorgen für „gutes“ oder „schlechtes“ Wetter, tragen dafür Sorge, dass auf der Erde, in Wald und Feld alles gedeiht und wächst und gesund und stark wird. Sie behüten das Vieh, die Wildtiere, die Ernte und die Menschen. Sie sorgen für Fruchtbarkeit, Gesundheit und gutes Gedeihen. Und sie verursachen Krankheiten, Unwetter, Fluten und Dürren, Hitze oder Kälte, wenn ihrer nicht angemessen gedacht und ggf. geopfert wird. Sie wohnen in Hausaltären, werden in Naturschreinen verehrt, leben in Felsen, auf Bergen, in Höhlen, Seen, Bäumen oder Flüssen, oder sie sind in diesen verkörpert und werden dann gewöhnlich auch an diesen Orten verehrt.
In den Ahn*innenkulten werden die Toten einerseits in der „Anderswelt“, anderseits aber genauso mitten unter den Menschen verortet. Die „Anderswelt“ ist sowohl der Welt der Lebenden zugehörig, als auch anderen Welten und Seinsformen, die sehr fluide Übergänge haben. (Ich benutze den Begriff „Anderswelt“ daher als Sammelbegriff für alle Vorstellungen einer anderen Form/ Ebene des Seins, in der sich die Ahn*innen in der Zeit der Erneuerung zwischen Tod und Wiedergeburt befinden. Die Vorstellung der Anderswelt (aus der keltischen Mythologie entlehnt) ist weit umfassender, als die Vorstellung eines „Jenseits“, unter dem meist eine vom Diesseits klar separierte Welt verstanden wird, in der die Toten, oder ihre Seelen, auf ewig oder bis zur Reinkarnation verweilen. Die Anderswelt ist nicht so eindeutig von der Welt der Lebenden unterschieden, weshalb auch der Begriff „Unterwelt“ nicht wirklich passend ist.) Viele Erzählungen berichten, dass sich das Leben in der Anderswelt verjüngt, um dann erneuert wiedergeboren zu werden, während es auf der Erde altert bis es stirbt.
Es gibt nicht nur fließende Übergänge zwischen der Welt der Lebenden und der Vorfahr*innen, genauso fließend sind die Grenzen zwischen den Naturgeistern und den Ahn*innen, denn in der Welt der Ahn*innen kann jedes Wesen jede Gestalt annehmen. Sowohl Pflanzen, Tiere als auch Naturerscheinungen (z.B. bei den Aborigines) wie Berge, Felsen, Flüsse, Seen oder das Meer werden als Ahn*innen verehrt und angesehen. Ahn*innen werden genauso in heiligen Hainen oder in Höhlen aufgesucht, wie in den Tempeln, die z.T. wie der Körper der großen Mutter geschaffen sind (z.B. auf Malta). BärInnen, Schlangen, LöwInnen und andere Wesen können genauso eine Ahn*in verkörpern oder beherbergen, wie ein Stein, eine Ähre, oder ein Maiskolben.
Ahn*innen sind Vorfahr*innen, Ursprungsorte, Nährende, Gebärende oder die, die den Lebenden, in welcher Form auch immer vorausgegangen sind, oder aus denen diese hervorgegangen sind. Üblicherweise verschwimmen die Grenzen, wie wir sie zu ziehen gewohnt sind: In der Ahn*innenverehrung kann eine Frau als Urahnin die Große Mutter sein, ein Berg wird als Ahn*in verehrt, oder ein See, ein Fluss, ein Fels, oder die Erde, das Land an sich.
Wenn Teile einer Landschaft als Ahn oder Ahnin verehrt werden, sind diese die Verkörperung/ Teil einer Urkraft, die ihnen innewohnt und aus der alles geboren oder von der alles geschaffen wurde. Diese Berge, Flüsse oder Seen zeigen also Parallelen zur Vorstellung einer Großen Mutter, aus der alles geboren wurde und wird. Ein Tempel oder das Wohnhaus kann diese große Mutter genauso „verkörpern“ wie Höhlen, Flüsse, Berge, das Meer oder ein Baum. Diese werden als lebende Ahni*innenwesen mit einer jeweils eigenen Persönlichkeit angesehen und verehrt. Beispiele für Urahn*innen die regional gebunden sind und in Form einer Landschaftsbesonderheit verehrt werden sind: der Annapurna, der Ganges, (beides Verkörperungen weiblicher Ursprungsgottheiten), die Donau, „Mütterchen Wolga“ ebenso wie die Felsen und Landschaftsmerkmale, die die Aborigines als die heiligen Stätten der Ahn*innenwesen (besonders der sieben Schwestern) oder als diese selbst verehren.
Indien und Neuseeland haben Flüssen, dem Ganges und dem Whanganui, sogar offiziell den Rechtsstatus einer Persönlichkeit verleihen, weil sie „als eigenständige lebendige Wesen und Vorfahren angesehen werden“.
Auch Pflanzen, wie die „Maismutter“ oder „Ceres die Kornmutter“ können diese Ahn*innenfunktion für eine Gruppe haben, genauso wie Tiere (Hirschkuh, Schaf, Katze, Löwin usw.) Diese sind einerseits selbst die Ahnin, die große Mutter, und „beherbergen“ gleichzeitig alle Ahn*innen, also alle Wesen, ggf. auch alle Pflanzen und Tiere, die gerade im Prozess der Erneuerung sind, in ihren Leib. Und aus diesem bringen sie alles neues Leben auch wieder hervor, schicken es erneuert und verjüngt wieder auf die Welt. Eine verbreitetet Form dieser Ahnin ist die „Mutter“- oder „Herrin der Tiere“, die auf Kreta verehrt wurde und sich in verschiedenster Form auf der ganzen Welt findet.(Diana ,Sedna, Mari etc.) Sie entscheidet nicht nur, ob und wann die Tiere jedes Jahr zurückkehren, sondern auch über das Jagdglück der Menschen.
Ahn*innen werden oft wie Familienmitglieder behandelt, die einen eigenen Tagesablauf haben, in dem sie gewaschen, gekleidet, genährt und verehrt werden und bleiben so weiter Mitglieder der Familie oder des Clans, in deren Leben sie täglich, oder zu bestimmten Anlässen einbezogen und geehrt werden. (z.B. bei den Adivasi in Indien). Ahn*innen-Verehrung ist oft ein unerlässlicher Bestandteil von Geburten, Hochzeiten, Beerdigungen oder Jahreskreisfesten, wie Aussaat, Ernte, Monsunzeit, Sonnenwenden, Jahreswechseln und vieles mehr. Sie werden meist am Herdfeuer verehrt, oft im Fußboden unter den Wohnräumen bestattet, oder an besonderen Orten aufgesucht. Immer sind sie aktiver Bestandteil der Gemeinschaft und haben regen Anteil an deren Wohl oder Wehe. Sie werden befragt und um Beistand und Hilfe gebeten. Ahn*innenverehrung ist meist ein alltäglicher Bestandteil des Lebens. Sie werden bei jedem Essen mitbedacht, oder zu Festen eingeladen (bekannt ist das mexikanische „Dia de Muertos“, das traditionelle Totenfest, bei denen die Toten die Lebenden besuchen und die ihnen erbrachten Gaben mit in ihr Reich nehmen, wenn sie am dritten Tag wieder gehen.) Die Lebenden können die Ahn*innen besuchen, sowie die Ahn*innen die Lebenden besuchen können. Die Welten sind nicht starr getrennt, es gibt fliessende Übergänge, und die Beziehung zwischen den Ahn*innen und den Lebenden ist eine gegenseitiger Fürsorge und Verantwortlichkeit.
Der Kontakt zu den Ahn*innen war ursprünglich wahrscheinlich Sache der Frauen nach der ersten Menstruation. Dieser rote Faden verband und verbindet die Menschenfrauen in vielen Matriarchaten und indigenen Völkern mit den Ahn*innen, denn er ermöglicht deren Wiedergeburt. Hier liegen wohl auch die Ursprünge schamanischer Reisen zu den Wesen der Anderswelt, die oft ebenfalls entlang eines roten Fadens stattfinden. Im Märchen von Frau Holle ist diese Vorstellung bis in die Neuzeit tradiert. Die junge Frau folgt dem Blut- und Lebensfaden der Spindel in die Anderswelt. Dort sorgt sie, durch ihre rituellen Alltagshandlungen, die Ausdruck einer nicht sakralen, sondern in alltäglichen Handlungen gelebten Spiritualität sind, dafür, dass das Gold (eine reiche Getreideernte) auf die Welt kommt.
Genauso gebiert Mutter Erde jährlich die Pflanzen neu, die Mutter der Tiere schickt diese als Jungtiere stets verjüngt zurück in die Welt, und die Zugvögel werden jährlich von Mutter Himmel aufgenommen und bei ihrer Rückkehr bringen sie das neue Leben aus der Anderswelt zurück.
Die „Anderswelt“ in der die Toten sich aufhalten, wird oft mit dem Leib, oder dem Reich der grossen Ursprungsmutter (Gaia, Maha Devi, Pacha Mama … ) gleichgesetzt und aus eben diesem gelangen die Ahn*innen auf verschiedensten Wegen zurück in die Körper der Frauen, die ihnen aus ihrem Blut wieder einen neuen Körper erschaffen und sie wieder gebären.
Es gibt in vielen Gruppen sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie die Ahn*innen in den Leib einer Frau gelangen. Der Übergang kann bei einem Bad in einem Teich oder einer Quelle geschehen, beim Essen von Bohnen, durch einen Wind oder beim Überqueren einer Kreuzung, der Berührung eines Felsens oder auf eine andere Art.
Auch bei Stämmen und Gruppen, denen die Zusammenhänge von Geschlechtsverkehr und Schwangerschaft bekannt sind, wird nicht die „Zeugung“ als Ursache für die Wiedergeburt eines Menschen betrachtet. Wenn dem „Vater“ überhaupt eine Rolle zukommt- was selten der Fall ist, dann „öffnet“ er allenfalls den Weg für den Ahn*innengeist. Die Vorstellung, dass der Vater das Kind „zeugt“ oder Mutter und Vater ein Kind „machen“ könnten, wird von diesen Gruppen oft laut belacht: Im Ahn*innenglauben schickt die große Mutter die Kinder zu den Menschen, oder die Ahn*innen selbst entscheiden, wann und ob sie durch welche Frau wiedergeboren werden und wann sie in deren Körper einziehen.
An den als Ahn*innen verehrten Orten, oder anderen speziellen Wohn- oder Aufenthaltsorten der Ahn*innen gilt die Wahrscheinlichkeit, eine Ahn*in zu „empfangen“ (eher wie einen Gast, nie als eigenes „Produkt“) als besonders groß.
Relikte dieser Vorstellungen finden sich in allen Teilen der Welt bis heute, wenn Frauen bestimmte Orte aufsuchen oder Wasser aus besonderen Quellen trinken, um endlich ein Kind zu empfangen.
Die Ahn*innenverehrung ist eng mit dem Wiedergeburtsglauben, der ewigen zyklische Wiederkehr und Erneuerung allen Lebens, verbunden. Die Ahn*innen sind in dieser Vorstellung nicht „die Anderen“, sondern alle lebenden Mitglieder der Gemeinschaft sind die Wiederverkörperung von Ahn*innen: ehemalige Großmütter und Großonkel bis hin zur Urahn*in eines Clans oder Stammes: die Stammmutter, die erste Frau, die in jeder Frau wiederkehrt. In vielen Gemeinschaften wird nach der Geburt eines Kindes durch verschiedene Verfahren festgestellt, welche Ahn*in sich in diesem Körper reinkarniert hat (z.B. bei den Muso, oder in etlichen Stammesgruppen der Adivasi in Indien, auch im tibetischen Buddhismus)
Die Ahn*innenverehrung, nicht nur in Matriarchaten, beruht also auf der Überzeugung, dass die Angehörigen eines Clans stets durch die Frauen dieses Clans wiedergeboren werden. D.h. jedes Kind ist ein*e wiedergeborene Ahn*in und jedes Clanmitglied wird eines Tages durch eine Frau desselben Clans wiedergeboren. Aus diesem Grund werden die Frauen in Matriarchaten als Clanmütter hoch geehrt, wobei sie nicht selbst Kinder haben müssen. Auch als Tanten und Schwestern und junge Mädchen werden sie als wiedergeborene Mütter, als Verkörperung der großen Mutter verehrt.
So erlebt z.B. ein Angehöriger der Muso (einer matriarchalen Gruppe in China) nicht nur seine leibliche Mutter als Mutter, sondern auch deren Schwestern, sowie seine Großmutter und deren Schwestern Mütter für ihn sind, genauso wie der Lugosee, an dem er lebt, seine Mutter ist und wie der Berg an diesem See ebenfalls als seine Mutter von ihm verehrt und geachtet wird. Der Begriff „Meine Mutter“ bedeutet für ihn all dies. Alle Angehörigen des Volkes der Muso sehen sich als wiederverkörperte Ahn*innen an.
Das heißt, in der Ahn*innenverehrung sind Frauen und alle weiblichen Wesen zentral für die „ewige“ Lebenserneuerung, die Wiederkehr der Menschen und des Lebens.
Auch hinduistische, buddhistische und andere Glaubensvorstellungen von Wiedergeburt haben ihre ältesten Wurzeln im Ahn*innenglauben und der Vorstellung ewiger Wiederkehr und Erneuerung, die in diesen Kontexten als Reminiszenz an die uralten fluiden Übergänge zwischen den Wesen und Welten auch als Tier erfolgen kann. (Wobei die alte Vorstellung von gleichberechtigter Bruder- und Schwesternschaft von Mensch, Tier und Pflanze- wie sie auch in unseren Märchen noch vorkommt- durch hierarchische Vorstellungen ersetzt wurde, in der Tiere und Pflanzen nicht mehr gleichwertige Ahn*innen sein können, sondern, wie auch alles Weibliche, als „niedere“ Lebensformen angesehen werden). Der Wunsch, dabei den Zyklus ewiger Wiedergeburten zu überwinden und alle Seinsformen hinter sich zu lassen, wäre den Gruppen, die Ahn*innenverehrung in der hier beschriebenen Form betreiben, vermutlich eine Horrorvorstellung:
Dass die sich ewig erneuernden Zyklen des Lebens enden könnten, wäre in diesen, eher matriarchal/ indigen geprägten Kontexten das Ende alles Lebens, der Tod der Ahn*innen und vermutlich der Tod und das Ende der Welt, die sich ebenfalls ständig wandelt und erneuert.
(Selbst das Christentum kannte und kennt ursprünglich die „Auferstehung des Fleisches“, die aus einem Wiedergeburtsglauben hervorging, der erst seit dem Konzil von Konstantinopel im Jahr 553 endgültig aus der christlichen Lehrmeinung verbannt wurde. Vorher wurde die Reinkarnationslehre als annehmbare Lehre noch toleriert. Im Christentum wurde aus der Ahn*innenverehrung und dem Wiedergeburtsglauben der Glaube an die durchaus auch „fleischliche“ Wiederauferstehung des Leibes und/ oder der Seele, die allerdings nun endgültig in der „himmlischen“ Welt der ewigen Jugend ohne Wiederkehr verbleiben. Aus der zyklischen Erneuerung wurde „ewiges“ Leben, in einem, wie auch immer gearteten, unveränderlichem (jungen und gesunden) Zustand.)
Den zyklischen Kreislauf des Lebens zu erhalten und zu ermöglichen, ist das zentrale Anliegen der matriarchalen- und vieler indigener Ahn*innenkulte, die immer eingebunden sind in das Bestreben, die beständige Erneuerung der Erde, der Pflanzen, der Tiere und des Lebens an sich sicher zu stellen und zu fördern.
Die Ahn*innen (ob als Mensch,Tier oder Pflanze) müssen also genährt werden, ihnen werden Libationsopfer (Wasser, Getränke, Blut) dargebracht, sie werden beräuchert, gefüttert, gewaschen, besungen und angerufen. Sie sind Gegenüber, mit denen geredet und auch gestritten werden kann, die aber nicht missachtet oder erbost werden sollten.
Vermutlich hat der Schamanismus seine tiefsten und frühesten Wurzeln in den Ahn*innenkulten, die vor allem von den Frauen betrieben und gepflegt wurden, die direkten Zugang zur Welt der Ahn*innen und zur Großen Mutter hatten und den Kontakt pflegten. Die Ahn*innen der Planzen und Tiere waren hier als Brüder und Schwestern genauso einbezogen, wie die menschlichen Vorfahren.
Mircea Eliade („Schamanismus und archaische Exstasetechnicken“,1980) beschreibt, schamanische Mythen vieler Völker, nach denen in alten Zeiten alle Menschen, „zumindest alle Frauen“, … „mühelos zum Himmel steigen (konnten) und ebensoleicht stiegen sie auch hinab in die Unterwelt.“ Es habe eine „Brücke zwischen und Himmel und Erde“ gegeben, „die einstmals allen Menschen zugänglich war“ (S.138) Medizinfrauen/*männer und Schamanin*innen, die zwischen den Welten reisen, „können also nach Belieben wiederholen, was die (mythischen) ersten Menschen einmal am Morgen aller Zeiten getan haben: zum Himmel aufsteigen und wieder auf die Erde herabsteigen“.(S. 141) „Unter diesem Gesichtswinkel betrachtet, bedeutet das schamanische Erlebnis eine Restauration dieser uranfänglichen mythischen Zeit.“(S.147ff)
In vielen schamanischen Traditionen sind es die „Geisterfrauen“, die den Schaman*innen ihre Gabe oder auch ihre Hilfsgeister verleihen und die Botschaften an die Menschen vermitteln, die die Schaman*innen von ihnen empfangen. Oft ist es die Mutter der Tiere oder eine Gattin im Himmel, die den Schaman*innen ihre Fähigkeiten und ihr Wissen verleiht (z.B. im sibirischen Schamanismus.), oder die „Seelen der Toten“ ergreifen Besitz von den Lebenden und verstorbene Verwandte lehren sie die Zauberlieder im Traum (Mircea Eliade,s.o.)
Die Kontaktpflege zu den Ahn*innen, die Rat, Heilung, Regen oder Sonne und reiche Ernte oder die Tiere zur Jagd bringen konnten, oder einfach, wie alle Clanmitglieder, als Teil der Gemeinschaft versorgt und gewürdigt werden, war und ist in vielen Gegenden der Welt noch heute integraler Bestandteil des alltäglichen Lebens und keinesfalls die ausschließliche Aufgabe spezialisierter Fachleute, wie Schaman*innen oder Priester*innen, auch wenn diese Kulte heute oft parallel zu den Ahn*innenkulten gepflegt werden, (wie z.B. bei den Muso in China.)
Jedes Mitglied dieser Gemeinschaften ist eine individuelle Wiedergeburt der Ahn*innen und steht daher potentiell stets mit diesen in Kontakt, als Teil der zyklischen Erneuerung allen Lebens.
Eine völlig andere Form der Ahnenkulte, die patriarchal geprägt ist, bezieht sich immer auf Geschichten und Mythen vom „ersten übernatürlichen Wesen, welches die Welt, so wie wir sie kennen, erschaffen hat“. Diese Mythen berichten von einem Wesen, das von seiner Gemeinschaft getötet wurde, und dessen Tod zur Schöpfung einer neuen Welt führte. Es handelt sich hier um Heroskulte, die einen Ahnen, der sich für die Gemeinschaft opferte, verehren.
Dieses „erste übernatürliche Wesen“ wird jährlich durch einen auserwählten Mann der Gemeinschaft wiederverkörpert und die jährliche Opferung dieses Wesens/seines Stellvertreters, wird zum Schöpfungsakt einer neuen Welt erklärt, die durch das Leid und das Blut dieses ständig wiederholten Opfers neu belebt und verjüngt werden muss.
In diesem patriarchalen Kontext ist der Ahn, als „erstes übernatürliches Wesen“ verkörpert anwesend. Ein männliches Mitglied der Gemeinschaft wird zu dessen Verkörperung/Stellvertreter erwählt und, wie dieser, meist nach einem Jahr geopfert.
In diesen Kulten ist das Vertrauen in die natürlichen Regenerationsfähigkeiten der Erde/der Welt verlorengegangen: die Ahn*innen und die Welt müssen regelmäßig durch frische (Blut-) Opfer genährt, verjüngt und erneuert und so vor dem ewigen Untergang bewahrt werden.
In den männlichen Initiationsriten wird die Todeserfahrung des „ersten übernatürlichen Wesens“- des Ur-Ahnen- von den Initianden reinszeniert. Dies ist meist ebenfalls mit dem Vergießen von Blut und mit Todesangst und Schmerzen verbunden. Die Initiation wird von allen jungen Männern der Gruppe vollzogen, die den Tod des ersten übernatürlichen Wesens damit erneut am eigenen Leib wieder erleben und so nicht nur zur ewigen Erneuerung der Welt beitragen, sondern auch selbst neugeboren, als „zweimalgeborene“ Männer daraus hervorgehen.
Die Frauen und die Erde selbst verloren durch beide Praktiken zunehmend ihre Bedeutung und Macht als Wiedergebärerin und Lebensspenderin. Das männliche Opfer wurde zum Retter der Welt, dem Erlöser von Leid und Not und zum Erhalter der Welt, dem Schöpfer einer neuen Welt, die durch (Blut-)Opfer erneuert und stets wiederhergestellt wird. Frauen wurden von diesen Ritualen zunehmend ausgeschlossen und ferngehalten und verloren so ihre Bedeutung als Leben erneuernde Ahninnen und Garantinnen für die Wiederkehr alles Lebens. Sie waren in diesen Kontexten nicht mehr die Lebensspenderinnen, sondern das Leben entstand, wenn überhaupt noch aus Frauen, dann aus ihren, von Männern zerstückelten Köpern.
Auch die oben genannten schamanischen Praktiken wurden zunehmend von diesem neuen Weltbild geprägt:
Der Schamane muss in diesem Kontext zunächst durch einen Prozess der Zerfleischung und Zerstückelung in der Unterwelt gehen, bevor er mit Hilfe seiner Hilfsgeister in die obere himmlische Welt, dem Wohnort des ersten übernatürlichen Wesens aufsteigen kann, in der er Rat und die Mittel erlangt, die für seine jeweilige Aufgabe nötig sind.
Der rote Faden des Blutes der Frauen verlor so in jeder Hinsicht immer mehr an Bedeutung in Bezug auf die Wiedergeburt und den Kontakt zur Anderswelt, und Männer wurden so im Laufe der Zeit zu den Schöpfern und Erhaltern der Welt, „so wie wir sie kennen.“ Sie übernahmen in ihren Riten zunehmend auch den professionalisierten und exklusiven Kontakt zu den Ahnen*innen und der „Anderswelt“, die früher allen – besonders aber den Frauen – zugänglich war.
Der Mythos vom goldenen Zeitalter, in dem alles verbunden war und alle gleichermaßen Zugang zur Welt der Ahn*innen hatten und die Ahn*innen Teil der Welt der Lebenden waren, denen sie beistanden und die sie regelmäßig besuchten, ging dennoch nicht verloren und wird in fast allen Kulturen und Religionen bis heute erzählt.
Als Gemeinschaft brauchen wir neue, heilsame Bilder und Erzählungen von Verbundenheit, die uns, Frauen wie Männer, in unserem individuellen Sein stärken. Bilder einer Verbundenheit jenseits vom „Krieg der Geschlechter“, den Spaltungen zwischen den Generationen und denen, die durch Herrschaft, Konkurrenz, Ausbeutung und Machtausübung entstehen. Der Mythos, dass dies die natürliche Ordnung der Welt sei, ist schon lange durch Fakten widerlegt. Unsere matriarchalen Ahn*innen der Vor -und Frühgeschichte und aus vielen Teilen der Welt, in denen diese Strukturen heute noch gelebt werden, können Lehrer*innen sein, uns Anregung und Inspiration geben, denn sie beweisen, dass Verbundenheit und Individualität, Gemeinwohl und Wohlstand, Natur und Kultur keine Gegensätze sind, sondern sich gegenseitig bedingen.
Ich denke, dass wir alle wieder einen lebendigen Kontakt zu unseren Ahn*innen brauchen. Einen Kontakt, der unsere Potentiale weckt und uns darin bestärkt, wer und wie wir sein können. Ein Kontakt, der uns zeigt, wie ein lebendiger, lebensförderlicher, respektvoller Kontakt untereinander und zur Natur gelingen kann.